Am 9. November 2018 jährte sich zum 80. Mal die Pogromnacht von 1938. Auch in Wolfenbüttel gab es Übergriffe auf die jüdischen Mitbürger, wurde die Synagoge angezündet. Über 150 Wolfenbüttelerinnen und Wolfenbütteler beteiligten sich am Freitag an der von der Stadt und dem Bündnis gegen Rechtsextremismus initiierten Gedenkveranstaltung gegenüber dem Bürgermuseum.

Dort war zuvor die neue Ausstellung im Bürger Archiv zur Biografie des jüdischen Arztes Dr. Siegfried Kirchheimer eröffnet worden. Die Geschichts-AG Klasse 11 der Henriette-Breymann-Gesamtschule hat sich in den vergangen Monaten intensiv mit den Teilen des Nachlass Dr. Kirchheimers („Arzt der Auguststadt“) beschäftigt. Dr. Kirchheimer emigrierte Ende 1938 mit seiner Tochter in die USA (New York), seine Frau und die beiden weiteren Kinder konnten erst im Frühjahr 1941 folgen (kurz bevor keine Juden mehr Deutschland verlassen durften). In den USA arbeitete Dr. Kirchheimer als Altenpfleger, er betrieb weiter regen Briefwechsel mit Wolfenbüttel. Lehrerin Beate Schulz und die Schüler erläuterten ihre Recherchearbeit und präsentierten stolz das Ergebnis.

Sabine Resch-Hoppstock (Bündnis gegen Rechtsextremismus), Bürgermeister Thomas Pink und Bundestagsabgeordneter Sigmar Gabriel legten im Anschluss einen Kranz am Gedenkstein nieder. „Heute erinnern wir hier in Wolfenbüttel, aber auch in vielen anderen Orten in Deutschland an den 9. November 1938. Die Verfolgung der Juden in Deutschland der 30er Jahre begann aber nicht erst in dieser Nacht. Längst war der Hass auf Juden zum zentralen Bestandteil der Propaganda der Nazis geworden. Schritt für Schritt waren die Lebensbedingungen für Juden verschlimmert worden“, betonte Gabriel später in seiner Gedenkansprache. Im Braunschweiger Land begann die Naziherrschaft viel früher als im Rest von Deutschland. Der Weg zur Reichspogromnacht war schon lange beschritten worden. „Erst wurde das politische Klima in Deutschland vergiftet, dann die Demokratie getötet und am Ende die Menschen.“ Wieso es dazu kommen konnte, sei für die nachkommende Generation heute noch unerklärlich. „Wie konnten Frauen und Männer tagsüber Menschen verfolgen und massenhaft umbringen und abends wie ganz normale Mütter und Väter, Freunde und Sportskameraden und Großeltern um Familie und Freunde kümmern. Für mich jedenfalls ist das der eigentliche Horror des Nationalsozialismus, dass er uns gezeigt hat, wie weit die Entmenschlichung gehen kann und was Menschen anderen Menschen anzutun bereit sein können.“ Ein 96-jähriger Jude, der die Reichspogromnacht als Kind in Deutschland erlebt hat, schreibe am Freitag in der NZZ: „Ich glaube nicht, dass die Menschen aus der Geschichte lernen und gescheiter werden. Ich bin Realist. Der Weg von der Zivilisation zur Barbarei ist kurz. Wir müssen wachsam bleiben. So etwas darf nie mehr geschehen.“ Mehr brauche man heute nicht zu sagen. Zu tun aber, bleibe leider immer noch viel. Bürgermeister Thomas Pink zitierte in seiner Ansprache den Historiker Raphael Groß: „Sie, die Reichspogromnacht, war die Katastrophe vor der Katastrophe.“ Nach den Ereignissen vom 9. Und 10. November 1938 habe kein in Deutschland lebender Jude mehr hoffen dürfen, dass es so schlimm mit den Nazischergen schon nicht kommen werde. Es sei jedoch noch schlimmer gekommen als sich alle hätten vorstellen können. „Die Reichspogromnacht vor 80 Jahren war das einschneidende Ereignis auf dem Weg zur Vernichtung der Juden in Deutschland und Europa, zur Vernichtung durch NS-Deutschland“, sagte Pink. Als Vorwand habe den Nazis das Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den Diplomaten Ernst vom Rath. Darauf hätten Hitler und seine verbrecherischen Handlanger nur gewartet. „Die Täter kamen im Schutz der Nacht – und kaum einer schritt ein. Diese Täter warfen Steine in die Fenster von Wohnungen, Läden und Synagogen. Diese Täter ermordeten 400 Menschen, nur weil sie Juden waren“, betonte der Bürgermeister. 26.000 jüdische Männer seien verschleppt und in Buchenwald, Dachau, Sachsenhausen inhaftiert worden. 1.500 Synagogen, Gebetsräume und jüdische Veranstaltungsstätten seien angezündet und geschändet worden. Für alle sei es sozusagen der bisher eindeutigste Akt für den Beginn einer planmäßigen Vertreibung, Deportation und Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden gewesen. Ein beispielloser Akt menschlicher Barbarei, Verrohung unter vollständiger Selbstaufgabe von Menschenrechten, Werten einer Kulturnation – schlichtweg unfassbar.

„Auch in Wolfenbüttel, in unserer Stadt, in einer Stadt in der es herausragende jüdische Kultur gab, in der aber auch sehr früh die Nazis fußfassen konnten, drangen Nazi-Schergen in die Synagoge ein, zerschlugen die wertvolle Einrichtung und zündeten das Gotteshaus an – es brannte bis auf die Umfassungsmauern nieder“, erinnerte Pink. SS-Horden seien zudem in Wohnungen eingedrungen um das dortige Mobiliar zu zerstören und die dort lebenden Menschen brutal zu misshandeln. Jüdische Männer seien verhaftet worden, was dann folgte wisse jeder. „Und es lässt sich eigentlich nicht wegschauen! Zu nah war diese Nazibarbarei in fast jeder Stadt Deutschlands, im ganzen Land zu spüren.“ Trotzdem würden auch heute noch einige versuchen, zu relativieren, zu verleugnen, Ausreden zu formulieren, um mit dem schwärzesten Kapitel Deutschlands abzuschließen. „Wer das, was da passierte, als ,Vogelschiss in der Deutschen Geschichte‘ bezeichnet, verabschiedet sich aus der demokratischen, parlamentarischen Grundordnung“, betont Pink. Der Bürgermeister forderte die Anwesenden dazu auf, sich inhaltlich mit „diesen selbsternannten besorgten Bürgern“ und ihren kruden Argumenten auseinanderzusetzen, bevor es zu spät sei und alle wieder sagen würden „damit haben wir alle nicht gerechnet“. Erst spalte man die Gesellschaft, dann lokalisiere man die Schuldigen, säe Hass und Unfrieden und setze so eine Spirale in Gang, die nur schwer aufzuhalten sei. „Wir müssen jeden Tag für diese Demokratie, unsere Freiheit und gegen Nationalismus und aufkeimenden Hass kämpfen“, fordert der Bürgermeister. Dazu sei auch Politik nötig, die sich an den Pro-blemen der Bürger orientiere.

Im Rahmen der Gedenkveranstaltung präsentierte der Geschichtskurs Klasse 12 der IGS Wallstraße einen Ausschnitt aus einem rund einstündigen Zeitzeugeninterview zum Synagogenbrand 1938 und zum Kontakt zu den jüdischen Einwohnern Wolfenbüttels mit der Wolfenbüttelerin Ursula Tacke. Die Interviewerinnen Larissa Ueckerseifer („Frau Tacke ist eine tolle Persönlichkeit. Ich habe eine richtige Gänsehaut bekommen. Es war sehr bewegend, ihren Erzählungen vom Ende des Krieges zuzuhören, als Panzer der Alliierten in die Stadt kamen und die Menschen sagten, sie seien jetzt endlich frei.“) und Lucy Brinner („Frau Tacke ist ein sehr beeindruckender Mensch. Es ist unglaublich, wie realistisch und wie präzise sie heute noch vom Brand der Synagoge, den Kriegsjahren und der Befreiung berichten kann. Ich bin sehr berührt worden. Ich glaube nicht, dass ich diese Begegnung jemals vergessen werde.“) und Lehrer Jochen Lehnert, gaben eine kurze Einführung. Musikalisch begleitet wurde die Gedenkveranstaltung von den Schülerbands „Park Avenue“ und „Hey You“ der Musikschule im Bildungszentrum des Landkreises Wolfenbüttel.