Die meisten kennen es: Man ist schon unter Zeitdruck, kommt vermutlich ohnehin zu spät zum Termin und dann schaltet die Ampel noch auf rot. Ein ordentlich beladener Trecker schert ein, bremst das Tempo noch einmal. Überholen ist aufgrund des Berufsverkehrs nicht möglich. Man fängt an zu Fluchen. Mit dem Thema „Aggressionen im Straßenverkehr: Ursachen, Auswirkungen und Prävention“ beschäftigte sich am Mittwochabend das verkehrspolitische Forum in der Lindenhalle.

Die Verkehrswacht Wolfenbüttel organisierte solch ein Themenabend zum 22. Mal, allen voran Horst Bittner, Geschäftsführer Gerhard Schmidt sowie die beiden Vorsitzenden Wolfgang Gürtler und Axel Gummert. Als Referent war Dr. Jens Schade von der TU Dresden (Fachbereich Verkehrspsychologie) geladen. Über 100 Bürger hörten sich seine wissenschaftlichen Ausführungen an, darunter Vertreter aus Politik, Verbänden, der Wirtschaft und Verwaltung, Feuerwehr und Polizei, Klinikum und Schule. Gürtler eröffnete: „Wir hören ein topaktuelles Thema.“ Bürgermeister Thomas Pink nahm darauf das angeschobene Thema um einen Verkehrs-übungsplatz in Wolfenbüttel auf. Er stehe dem positiv gegenüber. „Seitens der Politik besteht ein hohes Interesse an solchen Veranstaltungen“, sagte er, zumal er in der Gesellschaft vermehrt Aggressionen wahrnehme. „Sie ist überall vorhanden, nicht nur in sozialen Netzwerken.“ Feuerwehr, Polizei, seine Mitarbeiter und Politiker würden immer häufiger beleidigt. Pink verdeutlichte: „Wir werden jegliche Aggressionen angehen, bekämpfen und Präventionen gemeinsam entwickeln.“

Dr. Jens Schade machte seinen Einstieg mit einem Bild von Claude Gillot „Les deux carorosses“ aus dem Jahr 1770. Dabei gingen zwei Kutschführer aufeinander los. „Aggressionen sind eine weltweite Wahrnehmung und ein weltweit zunehmendes Problem“, sagte er. Sie sei besonders geprägt von Fremdwahrnehmung: „Andere sind schuld.“ Der Diplom-Psychologe definierte: „Ein Verhalten im Straßenverkehr ist aggressiv, wenn es andere Teilnehmer zu schädigen beabsichtigt (affektiv) oder wenn es die Durchsetzung eigener Ziele intendiert, zu deren Erreichung die Schädigung anderer Teilnehmer in Kauf genommen wird (instrumentell).“ Der Aggressive würde willentlich handeln. Schade sprach von einer Schädigungsabsicht. Menschen seien mit ihrem Fahrzeug auf dem Weg zu einem Ziel. Andere Verkehrsteilnehmer würden Zielblockaden darstellen. Als würde jemand aktiv versuchen, jemanden aufzuhalten. Die Verhaltensweisen auf Autobahnen: dichtes Auffahren, Lichthupe, Blockieren der linken Spur, Überholen auf der rechten Spur, hohe Geschwindigkeit, knappes Einscheren. In der Stadt: Hupen an der Ampel, Lückenspringen, Rücksichtlosigkeit gegenüber Schwächeren im Verkehr, Parkplatzsuche auf Geh- und Radwegen. Auf Landstraßen: riskantes Überholen, Überholen auf der Abbiegespur.

Schade: „Aggressionen richten sich immer an andere Menschen.“ Diese können verstärkt werden, je nachdem, wie geantwortet werde. Stichwort: noch langsamer fahren (Provokation). Aber: „Es gibt keinen allgemeinen Konsens darüber, welche Verhaltensweisen im Straßenverkehr als aggressiv zu bezeichnen sind.“ Die Straßenverkehrsunfallstatistik und Datensätze von registrierten Verstößen führten laut dem Fachmann keine Zahlen darüber. Schließlich könne man nicht nach jedem Unfall behaupten, dass der Fahrer aggressiv gewesen sei. Dafür gebe es viele Gründe. Die Statistik zeige aber dennoch Auffälliges: Von Dienstag bis Freitag nehme die Rate zu. „Zur Rushhour um 17 Uhr ist sie am größten“, so Schade weiter. Das Zentralregister würde laut ihm nicht das abbilden, was sich tatsächlich auf den Straßen abspiele, denn: „Aggressionen sind reine subjektive Wahrnehmungen.“

Nun die Tipps des Verkehrsexperten: Interventionsansätze und Bereitschaft zur Kooperation. Durch technische Maßnahmen würde sich vieles ändern lassen. Zudem zählte er die ständige Aufklärung, beispielsweise Präventivmaßnahmen durch Polizei und Verkehrswacht, als besonders effektive auf. Auch die Normenbildung nannte er. Schade: „In der Gesellschaft ist alkoholisiertes Fahren eine Tabu-Norm. Während schnelles Fahren durchaus akzeptiert wird. Denn wer ein schnelles Auto besitzt, der möchte auch schnell fahren.“ Er sprach sich für Tempolimits und größeren Überwachungsdruck aus. „Dadurch ist ein harmonischer Verkehrsfluss möglich“, schloss der Referent seinen Vortrag.

Axel Gummert leitete dann zum Fragenteil über. „Die gefühlte Aggressivität ist eine andere als die wissenschaftliche Darstellung“, stellte er fest. Die Zuhörer äußerten ihre Erfahrungen zum Beispiel bei Baustellen und bei Tempoänderungen. Auch sei die subjektive Wahrnehmung zur Sommer- und Winterzeit eine andere. Der Ausbau vom Öffentlichen Nahverkehr könne helfen, zumal die Anzahl an Fahrzeugen zugenommen habe, gar explodiert sei. Die Straßen seien überlastet. Der Straßenausbau und -sanierungen führten zu Stressfahrten. Tempokontrollen würden nicht nur vor Schulen helfen, dann würde woanders verstoßen. „Das autonome Fahren wird den Straßenverkehr verändern“, war sich Dr. Jens Schade sicher. Im Foyer lud die Verkehrswacht danach zum Imbiss.