Der 24. Februar war für die Menschen der Beginn eines Albtraums. Das, was zu dem Zeitpunkt Geheimdienste längst vorhersagten und niemand so recht glauben und für möglich halten wollte, trat ein. Das russische Militär marschierte von mehrere Seiten unter der perfiden Federführung von Präsident Wladimir Putin in die Ukraine ein. Es ist die dritte Woche, in der unschuldige Menschen, Zivilisten, Kinder, Journalisten und Soldaten sterben. Fassungslos stehen die Ukrainer vor zerstörten Schulen, Kinderkliniken und Wohnhäusern, vor dem Nichts.

Seit Kriegsbeginn formieren sich unzählige Initiativen. Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz, politische oder private Aufrufe sammeln alles Mögliche, um es ins europäische Nachbarland zu bringen. Das ukrainische Volk erfährt seitdem eine enorme Hilfsbereitschaft. Kinder, Erwachsene, Oma und Opa gehen in Großstädten auf der ganzen Welt auf die Straße, fühlen und zeigen ihre Solidarität. Hunderttausende protestieren am Brandenburger Tor mit blau-gelben Farben für Frieden. 

„Schaufenster“ erfuhr in dieser Woche von einer Story, die beispielhaft für die unbeschreibliche Hilfsbereitschaft ist. Kathrin und Thorsten Tunnat heißen die beiden Initiatoren. Sie hatten quasi die zündende Idee, brachten den Stein ins Rollen. „Rasend schnell verbreitete sich unser Aufruf über Mundpropaganda“, erzählte Thorsten Tunnat. Unheimlich wichtig war beiden bei diesem Bericht, nicht selbst ins Rampenlicht gestellt zu werden. „Es geht hier nicht um uns. Es geht um die Menschen in der Ukraine“, erklärten beide. Mit diesem Artikel soll die Dankbarkeit von beiden zum Ausdruck gebracht werden, denn hunderte Menschen brachten sich in Nullkommanix ein. In Peine, Goslar, Wolfenbüttel, Braunschweig, Salzgitter und mehr wurden Hilfsgüter gesammelt. 

Doch der Reihe nach. Es war Anfang März. Die schlimmen Bilder im Fernsehen mit den zerstörten Häusern und Abbruch der Versorgungsketten machten sich breit. Das Ehepaar nutzte seine vielen Kontakte im Smartphone. Sie führt ein Dienstleistungsunternehmen in Denstorf. Er hat eine leitende Position in Wolfenbüttel. Die Sache nahm Fahrt auf. „Wir machten einen Aufruf ausschließlich für Hygieneartikel, Lebensmittel, Konserven, Arznei und Verbandsmaterial. Explizit sammelten wir keine Kleidung, weil hier die Lager bereits überfüllt sind“, beschrieb er. Die Rückmeldung und Reaktionen waren für beide enorm. „Wir erfuhren eine phänomenale Spendenbereitschaft.“ Helferinnen und Helfer fragten gezielt, was sie noch aus dem Supermarkt besorgen sollten. Richtige Werte kamen zustande und wurden übergeben. 

Schließlich wurde bei einer Privatperson in Weddingen (Goslar), in Linden (Wolfenbüttel) auf dem Recyclinghof, an der katholischen Kirche in Vechelde, bei der Pferdepension am Harly in Lengde (Goslar), in Braunschweig-Kanzlerfeld  sowie bei ihnen in Denstorf (Peine) und in Dörnten (Goslar) gesammelt. „Innerhalb von zwei Wochen organisierten sich im Hintergrund hunderte Helfer“, betonten beide. An zwei Tagen, vorige Woche Mittwoch und Donnerstag, wurde dann alles aus den Zwischenlagern zusammengetragen. „Das war wie ein Lauffeuer“, empfand er und bekam Gänsehaut beim Erzählen. 

Zusammengekommen sind enorme Massen von Privatleuten und Firmen. Die Mühle in Rüningen spendete vier Paletten Mehl – 4.000 Kilogramm. 1,5 Tonnen Desinfektionsmittel hat die Firma Heil & Sohn zur Verfügung gestellt. Jemand anderes habe palettenweise Wasser oder eine Tonne Kartoffeln vorbeigebracht. Ihre Dienstleistungsräume wurden kurzerhand für die Verladung mit Kartons zum Lager umfunktioniert, zudem wurden Privaträume und Scheunen vollgestellt.  

Dann die nächste Bereitschaft. Firma Salzgitter Eurologistik GmbH aus Salzgitter-Watenstedt sowie die Spedition Carl Lüdecke aus Goslar stellten je einen 40 Tonner für den Transport bereit. Einer dieser LKW wurde auch extra für die Fahrt kurzfristig für den Straßenverkehr zugelassen. Die Express-Spedition Kusch aus Salzgitter-Thiede stellte einen weiteren Transporter bereit. Wohlgemerkt: „Alles kostenlos“, erklärte sie. 

Mit sechs Fahrern machten sie sich am vorigen Wochenende auf. Drei pro Fahrzeug. „Wir wechselten uns bei der langen Strecke ab“, fügte Thorsten Tunnat hinzu, der auch einen LKW fuhr. Samstag sind sie abends um 19 Uhr losgefahren. „Eine Strecke hatte über tausend Kilometer.“ 

Das Ziel war die Gemeinde Sanok, südöstlich der Stadt Jarosław in Polen. Den Kontakt stellte eine Arbeitskollegin von ihr her. Sanok liegt unmittelbar an der ukrainischen Grenze. Nur 20 Kilometer entfernt sollen tags zuvor die Bomben eingeschlagen haben, die Russland in Richtung Nato-Grenze abfeuerte. „Der Bürgermeister und sein Stellvertreter erzählten uns, dass nach dem Einschlag und den vielen Explosionen der Boden vibrierte“, berichtete er von den Gesprächen vor Ort. 

In großen Hallen, Garagen und Busdepots wurden die Hilfsgüter umgeschlagen. Sechs Stunden mit kurzen Pausen für Essen und Duschen verbrachten sie bei den polnischen Freunden. In der Gemeinde selbst hätten sie keine flüchtenden Menschen gesehen. „Dort war alles ruhig“, gab er an. Allerdings: „Alles, was dort im Umfeld ist, war auf den Beinen, um zu helfen.“ Thorsten Tunnat sagte, dass ihre Hilfsgüter etwa 30 Tonnen gewesen waren. Der Großteil sei im Nachgang direkt vom ukrainischen Militär abgeholt und ins Kriegsgebiet gebracht worden. „Arznei, Pflaster und Kartoffelpüree werden unmittelbar an der Front benötigt“, schilderte er. Noch viele Tage werden ins Land gehen, bis er die Lage verarbeitet hat. Man merkte es an seiner Stimme, die beim Erzählen immer weicher wurde. 

Auf dem Rückweg kamen sie an einer Strecke entlang, bei dem der Schock so richtig wirkte. „Krieg haben wir nicht gesehen, aber Leid.“ Im Minutentakt sahen sie irgendwann Reisebusse. Thorsten Tunnat erkannte leere Blicke auf den Sitzplätzen. Menschen in den Bussen verließen ihre zerbombte Heimat. Und auch der Blick nach vorn, nach Polen, Deutschland, Tschechien oder Slowakei, versprach bei der Abreise noch nichts Konkretes. „Die Menschen wussten ja gar nicht, wo sie ankommen. Sie fuhren einfach los. Wollten einfach weg.“ 

40 Stunden und 2.300 Kilometer waren die sechs Fahrer insgesamt unterwegs. Am Montagmorgen dieser Woche kamen sie erschöpft wieder in unserer Region an. Knapp 4.000 Euro für Diesel wurden aufgrund der immensen Kostenexplosionen aufgebracht. Das Besondere: „Auch der Sprit wurde durch Spenden bezahlt“, schloss das Ehepaar. Beide dankten nochmals den unzähligen Spenderinnen und Spendern, die gefühlt aus ganz Südniedersachsen gekommen sein müssen.