Welch eine Freude bei der Einwohnerschaft. Dass so schnell Nachwuchs in Weferlingen zur Welt kommt – damit hatte niemand gerechnet. Auch nicht Ralf Isensee vom Naturschutzbund Wolfenbüttel (NABU). Vor etwa drei Jahren hatte Maren Voges die Idee, sich auch in Weferlingen um den gefährdeten Nachwuchs zu kümmern. „Ich schaute immer auf eine Sirene. Und da kam mir die Idee fürs Storchennest“, erzählte sie bei unserem Besuch. Voges nahm Kontakt zum Bürgermeister Ole Jahnke und zum NABU auf. Und dann nahm alles seinen Lauf.
Der Storchenmast wurde gesponsert und ist gut vierzehn Meter lang, wobei zwei Meter fest im Boden verankert sind. Aufgestellt wurde er auf dem Grundstück von Malte Weichsler und Daniela Sandbrink. Das Nest baute Isensee. Er ist beim NABU der Storchen-Fachmann und kümmert sich seit 2007 um die Tiere. „Alles hatte mal bei uns in Hedeper angefangen“, erzählte er. Mit der Ornithologie, also der Vogelkunde, hat er sich schon länger beschäftigt. Bis 2015 war in Hedeper der einzige Mast im Landkreis Wolfenbüttel aufgebaut. Durch das Engagement unseres sehr geschätzten ehemaligen Kollegen Joachim Rosenthal wurde die Storchenzucht populär und darüber mehr und mehr berichtet. Laut Isensee entwickelte sich durch die „Schaufenster“-Berichterstattung eine Dynamik im Landkreis.
Vom Fachmann Isensee konnte man an diesem Abend viel lernen. Die Störche sind gerade auf ihrer Reise. Im Gebiet der Altenau, in Barnstorf-Warle und Groß Denkte finden sie beste Bedingungen zur Nachwuchszucht. „Das Tal der Altenau ist ein gutes Gebiet für die Brut“, sagte Isensee. Die Störche fliegen über die Felder und halten Ausschau. Nicht immer seien es Paare, weshalb mancher Vogel auch einfach nur auf der Durchreise ist.
Doch eines Tages im April beobachtete die Einwohnerschaft aus Weferlingen, dass ein Storchen-Paar das Nest offensichtlich ganz gemütlich findet. Isensee schätzte, dass vier bis fünf Eier gelegt wurden. Ein Ei sei blind, das andere soll runtergeschmissen worden sein. Zwei Jungtiere kamen jedenfalls etwa vor drei bis vier Wochen zur Welt. Welches Geschlecht, kann man noch nicht sagen. „Das weiß man erst, wenn sie geschlechtsreif werden. Oder man muss die Federn untersuchen“, erklärte das NABU-Vorstandsmitglied. Insofern war es auch schwierig, einen weiblichen oder männlichen Namen zu vergeben. Vorschläge gab‘s aber dafür von den Einwohnern viele. Per Strichliste stimmten sie ab.
In den letzten zehn Jahren habe Isensee rund einhundert Störche im Landkreis Wolfenbüttel beringt. Insbesondere die Gegend um Schladen und Börßum/Dedeleben an der Auenniederung Großen Bruch seien beliebt. Dass die Brutstörche mal an ihren Geburtstort zurückkommen, sei unwahrscheinlich. „In Deutschland gibt es rund 10.000 Brutpaare“, schätzte Isensee. Aktuell gebe es ihm zufolge im Landkreis 15 Nester, wovon in zehn in diesem Jahr gebrütet wurde. Er erwähnte auch die große Brut rund um Hornburg. „Die Störche werden von Flussauen angezogen“, meinte er.
Am Montagabend fand nun die Beringung in Weferlingen statt. Isensee holte ein Jungstorch aus dem Nest, damit die Besucher unten dabei zuschauen konnten. Den anderen Jungstorch beringte er oben. Rund 30 Ringe konnte er in diesem Jahr schon an den Beinen „montieren“. In geraden Jahren knipst er diese rechts an, in ungeraden am linken. Beim Hochfahren half die Feuerwehr Schöppenstedt mit ihrer Drehleiter. Korbmaschinist Dennis Tielemann nahm Isensee und die Presse mit nach oben.
Auf den Ringen stehen eine Nummer und die Buchstaben „DEW“. Das Kürzel steht für die Vogelwarte Helgoland in Wilhelmshaven. Das Institut überwacht den Storchenbestand. Der Weißstorch ist in Deutschland als gefährdet eingestuft, obwohl sich der Bestand in den letzten Jahren auch Dank des Engagements im Landkreis Wolfenbüttel erholt hat. Die Jungstörche aus Weferlingen bekamen die Nummern „7V526“ und „7V527“. Werden sie nun irgendwo mit ihrer Nummer von offizieller Seite gesichtet, wird dies der Warte gemeldet und es gibt eine Rückinfo.
Das Anbringen der Nummer gefährdete die Jungtiere seinen Angaben nicht. In den ersten Wochen fallen die Jungtiere in eine Schutzstarre. Das Fachwort hierzu lautet „Akinese“, also ein Totstellreflex. „Wären die Jungstörche schon sieben, acht Wochen alt, hätte man nicht mehr beringen dürfen, weil der Reflex dann nachlässt und man die Tiere schädigen könnte. Die Eltern sind in der Lage, ihre Jungen aus dieser Starre zu aufzuwecken.“
Noch etwa zehn Wochen werden die Jungtiere im Nest bleiben und von ihren Eltern gefüttert. Dann werden sie flügge, also werselbstständig und möchten das Elternhaus verlassen. Wenn der Flügelschlag klappt, bleiben sie noch etwa zwei weitere Wochen in Weferlingen, ehe ein weiter Weg vor ihnen liegt.
Laut dem NABU-Fachmann ist aber noch nicht so ganz klar, ob es „Ostzieher“ oder „Westzieher“ werden. Störche, die gen Osten fliegen, streben die Ecke um den Bosporus, der Türkei und die Sahelzone an. „Westzieher“ fliegen in Richtung Frankreich, Spanien und Marokko. Da die Eltern Anfang April in Weferlingen einkehrten, waren es laut Isensee vermutlich „Ostzieher“.
Damit sie auch die Reise antreten können, werden sie gefüttert. Die Eltern sammeln Mäuse, Ratten, Heuschrecken, Maulwürfe und manchmal auch Schlangen an den Feldern auf und schlucken diese runter. „Gerade auf abgemähten Felder finden sie viel. Heuschrecken sind eine ausgezeichnete Quelle für Eiweiß“, sagte Isensee. Landen die Eltern dann im Nest, regen die Jungen mit ihrem Schnabel beim Schnabel der Eltern einen Würgereflex an. „Sämtliche Nahrung wird dann im Nest aus dem Schlund hochgewürgt und die Kinder können sich davon ernähren. Wenn die Jungstörche zu Ende gepickt haben, essen die Eltern alles andere auf“, erklärte Isensee, der als Beringungshelfer eingesetzt wird. Beringer Georg Fiedler von der Vogelwarte setzt ihn offiziell für die Arbeiten im Landkreis ein.
Wie die Fütterung ablief, konnte man beim Storchenfest am Montag unmittelbar sehen. Zunächst flog der Papa-Storch ins Nest, später kam die Mutter dazu. Sie werden ihre Jungen zunächst aus der Starre aufgeweckt und dann gefüttert haben.