Zum zweiten Mal durfte THG-Geschichtslehrerin Sina Ivers die aus Prag angereiste NS-Zeitzeugin Michaela Vidlakova kürzlich in der Aula des Theodor-Heuss-Gymnasiums begrüßen und betonte, dass sie sich sehr darüber freue, dass neben den Schülerinnen und Schülern des 10. Jahrgangs, die das Thema Nationalsozialismus aktuell im Unterricht behandeln, auch der 13. Jahrgang noch vor dem Abitur die Chance bekomme, die Geschichte Vidlakovas zu hören. Beide Jahrgänge hörten gespannt zu, während die Überlebende des Holocausts von ihrer Zeit während der nationalsozialistischen Besatzung in Prag und ihren Erlebnissen im KZ Theresienstadt berichtete. Nach der Vorstellung ihrer Person und des beeindruckenden Werdegangs in den Naturwissenschaften stieg Vidlakova ins Thema ein, indem sie auf ein Zitat von Friedrich Schorlemmer verwies: „Erinnern kann nicht ungeschehen machen, aber die Wiederholungswahrscheinlichkeit verringern.“ Genau deswegen besuche sie viele Schulen in ganz Deutschland und sei auch zum zweiten Mal nach Wolfenbüttel ans THG gekommen, erzählte sie.
Es folgte ein Appell an die Schüler, Dinge nicht schweigend hinzunehmen, sondern „selbst etwas zu tun“. Ausdrücklich schülerzugewandt berichtete sie, dass weder sie noch ihre Familie oder Bekannte sich hätten vorstellen können, wie gegen die Juden vorgegangen wurde. Zur Veranschaulichung der Diskriminierung gab sie viele schülernahe Beispiele für diverse Maßnahmen, die zu einer Diskriminierung und dem Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben führten. So durften Juden keine kulturellen Angebote mehr wahrnehmen und nicht auf Spielplätze und in Schwimmbäder gehen, was sie als Kind offensichtlich als besonders schlimm empfand. Sie erzählte auch, dass Juden nur in wenigen ausgewählten Geschäften eine Stunde pro Tag einkaufen durften. Weiterhin berichtete sie aus ihrer Kindheit in Prag, wie sie mit ihrer Oma nur an Wochentagen und stehend Straßenbahn fahren durfte. Wenn es zu voll wurde, wurden die Juden der Straßenbahn verwiesen. Aus kindlicher Perspektive betrachtet war es für Vidlakova besonders schlimm, dass sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nicht mehr mit allen Kindern auf dem Hof spielen durfte. Sehr eindrücklich berichtete sie auch von den Enteignungen, den Vertreibungen aus den Wohnungen in jüdische Sammelwohnungen und den Massendeportationen. Mit einem Bild der Klasse ihrer Mutter vor und nach der nationalsozialistischen Herrschaft veranschaulichte sie den Völkermord, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. Auf dem ersten Foto ist eine Klasse mit ihrer Mutter als Lehrerin zu sehen, auf dem zweiten sind nur noch Vidlakovas Mutter und eine einzige Schülerin, die überlebt hat, zu erkennen.
Statt der Vorfreude auf einen Kindergeburtstag musste sie sich mit ihren Eltern kurz vor ihrem 6. Geburtstag zu einer Sammelstelle begeben, von wo aus sie dann nach Theresienstadt deportiert wurden. „Dort wurde eine Person dann lediglich zu einer Nummer“, berichtete Vidlakova den THGlern. In Michaela Vidlakovas Fall war das 539, wovon sie auch ein Bild zeigte.
Wieder sehr schülernah beschrieb Vidlakova nicht nur die prekären Bedingungen in Theresienstadt, sondern auch den Versuch der Insassen, eine „Insel der Kindheit“ für die jüdischen Kinder zu errichten. Trotz des Verbots wurden die jüdischen Kinder heimlich unterrichtet, denn sie wollten lernen und nicht den Anschluss verpassen, wenn sie später wieder zur Schule gehen könnten. Trotz all der Grausamkeiten hatte sie nie die Hoffnung auf ein Leben nach der nationalsozialistischen Besatzung aufgegeben.
Während ihrer Zeit in Theresienstadt wurde Vidlakova sehr krank, so dass sie ein Jahr auf der Krankenstation verbrachte, wo sie einen jüdischen Berliner Waisenjungen kennenlernte, von dem sie Deutsch lernte. Ihr guter Freund, den sie als Bruder gern adoptieren wollte, war ihr einziger Deutschlehrer. Nach dem Krieg versuchte sie, ihn mit ihren Eltern zu suchen, aber auch er wurde von den Nazis in Auschwitz vergast.
Dass ihr Vater Arbeit in Theresienstadt bekam und sie das unglaubliche Glück hatte, mit ihrer Familie nicht nach Auschwitz deportiert zu werden, verdankt Vidlakova einem Holzspielzeug, das ihr ihr Vater zu ihrem 5. Geburtstag schenkte. Dieses Spielzeug zeigte, wie handwerklich geschickt ihr Vater war, weswegen er in Theresienstadt als Zimmermann arbeitete. Damit war die Familie zum ersten Mal gerettet. Ein zweites Mal rettete ein Sturm die Familie vor der Deportation nach Auschwitz, denn man suchte geschickte Männer, die zerstörte Baracken wieder aufbauen konnten. Durch glückliche Zufälle überlebte Michaela Vidlakova zusammen mit ihren Eltern den Holocaust und wurde am 8. Mai 1945 von der Roten Armee befreit. Ihre Großeltern dagegen wurden in Auschwitz und Treblinka ermordet.
Die Schülerschaft war tief berührt von diesem zugewandten Vortrag und der Einsicht in Erlebnisse einer Zeitzeugin, der viele bewegte und die Schüler dazu ermutigte, „selbst etwas zu tun“ und Diskriminierung nicht tatenlos hinzunehmen. Nach dem Vortrag gab es für die Schülerschaft die Möglichkeit, Fragen zu stellen, wovon viele der Zuhörerenden Gebrauch machten.