Bereits zum 25. Mal haben die Kolpingfamilie Wolfenbüttel, die Pfarrei St. Petrus die Wolfenbütteler Gruppe von Amnesty International und die Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel zum Gedenkgottesdienst eingeladen. Gemeinsam wurde mit Angehörigen der Opfer im Wolfenbütteler Gefängnis während des Nationalsozialismus gedacht. In diesem Jahr fand der Gottesdienst in der St.-Petrus-Kirche unter dem Titel „Tut dies zu meinem Gedächtnis statt“.

Während des ökumenischen Gottesdienstes, der von Pfarrer Matthias Eggers und Mitgleidern der Kolpingfamilie geleitet wurde, gab es Zeit zum Innehalten und Gedenken. Mit Musik, Bibelworten, aber auch in Stille und Andacht erinnerte man in der vollbesetzten Kirche an die Grausamkeiten, die sich während des Zweiten Weltkriegs in der JVA Wolfenbüttel ereigneten. Und man schaffte Raum für diejenigen, die noch viele Jahrzehnte nach der Befreiung im April 1944 mit den Geistern der Vergangenheit zu kämpfen haben. Seit 1990 erinnert die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel an die über 15.000 in der NS-Zeit inhaftierten Menschen und an die 526 Hingerichteten.

„Die Gedenkstätte zeigt das Unrecht, welches in einer Fassade von Scheinlegalität, stattfand: Urteile, die aufgrund von NS-Gesetzen von Richtern gesprochen und Strafen, die in Haftanstalten und Hinrichtungsstätten vollzogen worden sind. Im Gegensatz zu dem Verfolgungsort Konzentrationslager waren die Institutionen Gericht und Haftanstalt keine spezifischen nationalsozialistischen, nur in der NS-Zeit bestehenden Verfolgungsinstitutionen. Daher ist es eine wichtige Aufgabe gerade dieser Gedenkstätte zu zeigen, was das spezifische Unrecht war, welches von Gerichten und in Haftanstalten im Nationalsozialismus begangen wurde. Ich meine damit: Unrechtsurteile, die Unverhältnismäßigkeit von Strafbarkeit und Strafhöhen und die Inkaufnahme von Krankheit und Sterben in Strafanstalten durch zu schlechte medizinische Versorgung, unzureichende Ernährung und durch Ausbeutung der Arbeitskraft von Gefangenen für die Kriegswirtschaft. Dieses wurde erst spät in der bundesrepublikanischen Gesellschaft erforscht, thematisiert und generell anerkannt“, sprach Martina Staats, Leiterin der Gedenkstätte während der Andacht.

Für die Familienangehörigen der im Strafgefängnis Wolfenbüttel in der NS-Zeit bedeutete die Verurteilung ihres Vaters, ihrer Mutter, ihres Großvaters oder ihrer Großmutter eine Lebenszäsur. Wie sehr es das Leben von Angehörigen verändern kann, schilderten Elisabeth Jensenius, Tochter des norwegischen Widerstandskämpfers und Nacht-und-Nebel-Gefangenen Wilfred Jensenius. Und Sabine Pinkepank-Appel, Enkelin des Wolfenbütteler Schriftsetzers Henry Pinkepank, der vom Braunschweiger Sondergericht für eine regimekritische Bemerkung im Juni 1933 zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war.

„Ich freue mich, dass wir heute diesen Gottesdienst gemeinsam mit zwei Familienangehörigen begehen und aktiv gestalten werden. Das Thema des diesjährigen Gedenkgottesdienstes ist ,Wie können wir uns erinnern?‘ Wichtig ist aus meiner Sicht vor allem, dass wir uns erinnern. Daher danke ich an dieser Stelle ausdrücklich der Kolpingfamilie für ihre Initiative, jährlich einen Gottesdienst ,Gegen das Vergessen‘ durchzuführen“, schloss Martina Staats.

Sabine Pinkepank-Appel erzählte die Geschichte ihres Großvaters, der die zweijährige Gefangenschaft zwar überlebte, aber Zeit seines Lebens von ihr gezeichnet war. „Er hat das Hitler-Regime überlebt. Und er hat Hitler überlebt. Wie schwer die Last und sein Leid war – darüber wurde niemals gesprochen. Auch nicht über die Auswirkungen auf die Angehörigen. Er verbarg sich in Arbeit“, erzählte Sabine Pinkepank während des Gottesdienstes. Sabine Pinkepank hat die Erinnerungen an das tragische und schwere Leben ihres Vaters – der ganzen Familie – in ihrer Kunst verarbeitet. Im Sommer 2016 ging sie sprichwörtlich vor der Vergangenheit auf die Knie.

Gemeinsam mit  ihrer Schwiegertochter Daniela Appel und begleitet vom Mitarbeiterteam der Gedenkstätte fertigte sie eine Frottage mit Kohle auf Leinwand an. Es zeigt den Fußboden Hinrichtungsraums. Sichtbar sind gut die Originalfliesen; darin 2 Löcher, ein großes und ein kleines, rechteckig. Im Großen noch vorhanden der Bolzen, der die Guillotine am Platz hielt. Das Kleine zum Abfluß.

Während des Gottesdienstes wurde die Frottage zum ersten Mal gezeigt. Platz fand sie auf dem Boden liegend vor dem Altar. So wurde symbolisch ein Stück Fußboden aus dem Hinrichtungshaus in die Kirche gebracht und Sabine Pinkepank lud alle Anwesenden ein, vor den Altar zu kommen um das Werk in Augenschein zu nehmen und sich in Gedenken zu verneigen. In Erfurcht und Erinnerung – so wie sie es tat, als sie ihr Kunstwerk anfertigte.

„Albträume und Erinnerungen an den Krieg quälten ihn für den Rest seines Lebens. Er sprach nicht über seine Kriegsjahre und es war klar, dass ich auch nicht fragen konnte. Obwohl ihn diese Jahre sehr prägten, war er nie gebrochen und verlor nie den Willen, für das Gute im Menschen zu kämpfen und daran zu glauben. Er wusste sehr wohl, dass das Böse existiert und dass das Böse immer bekämpft werden muss. Optimismus muss mit Realismus verbunden sein. Gedankenfreiheit und faire Prozesse für alle waren ihm wichtig. Er hatte kein gesprochenes oder geschriebenes Motto für sein Leben, aber ich beobachtete und lernte aus seinem Beispiel, und es war mir klar, dass sein ganzes Leben mir sagte: „Gib niemals auf – niemals“, erzählte Elisabeth Jensenius. Nach dem Gottesdienst waren die Besucher eingeladen, auf ein Wort oder zum stillen Gedenken im Roncalli-Haus zusammenzukommen.