Volles Haus und ein humorvolles sowie sachkundiges Plädoyer für mehr Verständnis unter den Menschen – für einen lebendigen Vortrag war die Künstlerin und Autorin Gee Vero auf Einladung der DRK-inkluzivo Wolfenbüttel gGmbH zu Gast. Es war die Auftaktveranstaltung einer Vortragsreihe zum Thema Inklusion. Gee Vero referierte über ihren Alltag und ihre Wahrnehmung als Asperger-Autistin und über den frühkindlichen Autismus ihres Sohnes. Ein Thema, das auf großes Interesse stieß, die Veranstaltung war sehr gut besucht. Über 120 Gäste suchten sich ihren Platz im Wintergarten des DRK-Solferino am Exer.
„Der Begriff Inklusion werde derzeit fast inflationär gebraucht, ohne dass wirklich hinterfragt wird, ob es sich tatsächlich um inklusive Angebote handelt oder nicht“, erklärte Thomas Stoch, Geschäftsführer der DRK-inkluzivo in seiner Begrüßungsrede. Vielmehr sollen die Betroffenen und ihre Angehörigen gefragt werden, was sie wünschen und welche Hilfen sie tatsächlich benötigen, um besser am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Mit der dreiteiligen Vortragsreihe will der Veranstalter dafür ein Zeichen setzen, betroffenen Menschen die Gelegenheit geben, Klartext zu reden. Mit Gee Vero hatte das DRK jedenfalls die passende Auftakt-Rednerin gefunden, die mit ihren scharfen, tiefgründigen und witzigen Beobachtungen aufzeigte, was es bedeutet, mit Autismus zu leben und wieso es der Gesellschaft so schwer fällt, mehr Verständnis für diese Form der Wahrnehmung aufzubringen.
„Es gibt nicht den einen Autismus, sondern 69 Millionen Autismen auf der Welt“, sagte sie. Ihr gelänge es zum Beispiel relativ gut, sich anzupassen. Dafür habe sie ihre eigenen Methoden über Jahre entwickelt. „Die Bilder hier im Saal hängen zwar schief, das kann ich aber heute akzeptieren“, sagte Gee Vero – vor Jahren hätte das ein großes Unbehagen in ihr ausgelöst. Ihr Sohn dagegen habe weniger Möglichkeiten, sich anzupassen. „Menschen mit frühkindlichem Autismus nimmt die Gesellschaft gar nicht wahr“, so Vero oder eben nur dann, wenn sie auffallen, weil sie etwa laut brüllen oder ständig in Bewegung sind sowie nicht verständlich kommunizieren können. „Wenn mein Sohn Sie mag, würde er das zeigen, indem er sich mit dem Rücken zu Ihnen aufstellt und Sie mit Büchern bewirft“, veranschaulichte die dreifache Mutter die Situation. Dasselbe Verhalten könnte bei einem anderen Autisten aber genau das Gegenteil bedeuten.
Eine wirklich barrierefreie und inklusive Gesellschaft müsste auch für ihren Sohn Verständnis aufbringen. „Bei dem Wort inklusiv denken die meisten Menschen nur an die Rampe für Rollstuhlfahrer“, so Vero. Beim Thema Autismus gehe es aber oftmals um eine andere Wahrnehmung, „Mir hilft es immer, andere zu verstehen, wenn sie mir etwas über ihre Wahrnehmung erzählen. Dann kann ich Situationen oft besser einordnen“, sagte die Künstlerin. Sie betont, dass jeder Mensch eine unterschiedliche Wahrnehmung habe. Dies sei den meisten allerdings im Alltag nicht bewusst.
Die Autorin bediente sich in ihrem Vortrag nicht nur ihrer eigenen Biographie und sehr persönlichen Beobachtungen, sondern betrachtete das Phänomen auch auf der Sachebene – erklärte biologische und philosophische Zusammenhänge. Bei Autisten sei die Wahrnehmung auf besondere Weise anders. „Autismus ist eine interessante und anstrengende Variante der Norm“, betonte Gee Vero. So sei die Wahrnehmung stark nach innen gerichtet. „Die Gesellschaft verlangt aber nach außen gerichtete Individuen“, erklärte Vero. Die bewusste Wahrnehmung der Umgebung und der Eindrücke mache bei einem nicht-autistischen Gehirn etwa zehn Prozent aus, bei einem autistischen Gehirn seien es etwa dreimal so viel. Noch dazu interpretiere dieses Gehirn fast alle Einflüsse als neu und als potentiell gefährlich. „Deswegen ist die Anpassung an die gesellschaftlichen Normen so anstrengend für uns“, sagte Gee Vero. Sie erzählt, dass sie einen „normalen“ Tagesablauf – mit sozialen Interaktionen – nur sechs Stunden durchhalte.
„Kleinigkeiten lösen Stress aus. Das geht auch mit Inklusion nicht weg“, erklärte Gee Vero. Für sie bedeute dies stets ein Dilemma. Der Umgang mit anderen Menschen oder die Anwesenheit an unbekannten Orten seien für sie mit großer mentaler Anstrengung verbunden. „Aber das bedeutet Leben“, sagte sie. Autisten würden sich nach ihrer Erfahrung immer stark bemühen, der Gesellschaft entgegenzukommen. „Inklusion würde bedeuten, dass auch die Gesellschaft den Menschen mit Autismus entgegenkomme.“
„Die inklusive Schule – Motive, Konzept, Bildungspolitik“ hinterfragt Prof. Dr. em. Hans Wocken am Donnerstag, 2. Mai. Der Wissenschaftler war Professor für Behinderten- und Integrations-Pädagogik an der Universität Hamburg und erläutert, was es mit einer inklusiven Pädagogik und einer inklusiven Bildungspolitik auf sich hat. Hans Wocken geht der Frage nach, warum eine inklusive Bildung wichtig und erstrebenswert ist. In seinem Vortrag möchte er diskutieren, was eine inklusive Schule auszeichnet – und wie eine ideale inklusive Bildungslandschaft aussehen kann. Donnerstag, 2. Mai, von 18 bis 20 Uhr im DRK-Solferino, Am Exer 17.
„Dachdecker wollte ich eh nicht werden!“, erklärt abschließend Raúl Krauthausen in seiner Lesung am Sonntag, 5. Mai. Der Berliner Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit arbeitet seit mehr als 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt. Hier fordert er nachhaltig mehr Rechte, eine größere Selbstbestimmung und eine Verbesserung der Lebensumstände von Menschen mit Behinderungen. Bei seinem Besuch in Wolfenbüttel liest er einige Passagen aus seiner Biographie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden! Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“ und erläutert Hintergründe zum neuen Kinofilm „Die Kinder der Utopie“.
Vor und nach dem Vortrag ist Gelegenheit zu Gesprächen. Es gibt Getränke und kleine Leckereien aus der Küche des Inklusionsbetriebs DRK-Solferino. Sonntag, 5. Mai, von 17 bis 19 Uhr (Einlass 16.30 Uhr) im Hörsaal und Foyer der Ostfalia Hochschule, Am Exer 11. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist kostenlos.