Das ist mal wieder einer dieser Momente, in denen man stolz darauf ist, Wolfenbütteler zu sein. Der Bundespräsident kommt, und das mediaIe Interesse der gesamten Republik richtet sich – wenn auch nur für kurze Zeit – auf die Lessingstadt. Gleich mehrere Filmteams, zudem Journalisten von Radio und Presse dokumentieren den Besuch von Frank-Walter Steinmeier am vorigen Dienstag in der Herzog August Bibliothek (HAB). Und am Ende schreibt die Frankfurter Zeitung: „Das Glück ist daheim in Wolfenbüttel.“  

Nicht dass wir das nicht schon lange gewusst hätten. Aber es ist doch schön, wenn die restliche Welt es auch merkt, selbst wenn der FAZ-Kollege einschränkt: „Bücherlesers Glück zumindest.“ Dieses Urteil passt gut zum Anlass der Veranstaltung, denn der Bundespräsident sowie zahlreiche Ehrengäste kamen zu einem starken Jubiläum der HAB: Auf den Tag genau vor 450 Jahren hatte Herzog Julius seine „Liberey-Ordnung“ erlassen – das Zehn-Punkte-Papier gilt seitdem als offizielle Geburtsstunde der Bibliothek, die von späteren Generationen gern als „achtes Weltwunder“ gerühmt wurde. 

HAB-Direktor Prof. Dr. Peter Burschel ging in seiner Begrüßung auf die „glückliche Sammlungsgeschichte“ ein, die zu dieser Entwicklung geführt habe. Und er wies die Besucher darauf hin, dass Buchgeschichte auch Sinnesgeschichte ist – was sich in der Augusteerhalle mit tausenden in Schweinsleder gebundenen Werken eindrucksvoll bestätigte. Ein weiterer Höhepunkt war nach dem Festakt die Öffnung der Schatzkammer, wo eine der seltenen Gelegenheiten gegeben war, mit dem Evangeliar das ehemals teuerste Buch der Welt zu bewundern. Nachdem ihn der Direktor „in unserem wunderbaren Bücherhaus“ begüßt hatte, war sich der Bundespräsident mit diesem einig: Der freie Zugang zu Bibliotheken ist ein ziemlich sicherer Indikator für den Zustand der Freiheit in einer Gesellschaft. „Wissen frei zugänglich machen und halten – vor nichts fürchten sich Autokraten mehr“, formulierte es Prof. Dr. Burschel. 

Umgekehrt gelte, so Steinmeier: „Wo der Zugang zum Wissen verhindert, wo bestimmte Bücher weggesperrt, zensiert, ja sogar vernichtet werden, da ist Partizipation, da ist demokratische Teilhabe am Wissen, da ist das freie Gespräch gefährdet. Von der Diktatur über das Wissen und das Wissendürfen bis zur politischen Diktatur ist es immer nur ein kleiner Schritt.“ Die Parallelen in der Rede des Bundespräsidenten zu den russischen Gräueltaten in der Ukraine waren vielfältig. Doch nicht nur die Kriegsverbrechen Russlands seien sichtbar vor den Augen der Welt. „Auch kulturelle Einrichtungen sind betroffen. Sie müssen schließen, sind gefährdet oder wurden schon zerstört: Kirchen, Museen, Archive, Theater und eben auch Bibliotheken. Dieser Krieg richtet sich auch gegen das kulturelle Selbstverständnis der Ukrainer.“

Auf diesem Gebiet sammele die Deutsche Nationalbibliothek  Hilfsangebote aus unserem Land, die Berliner Staatsbibliothek koordiniere die Anfragen nach Hilfe aus der Ukraine. Transporte mit Verpackungsmaterial sind unterwegs, Speicherplätze für den Schutz digitaler Daten werden angeboten – und natürlich Hilfe für Geflüchtete, etwa als kurzfristig ermöglichte Stipendien und Jobangebote bei vielen Bibliotheken. „Vielen Dank an dieser Stelle an alle Beteiligten für diese präzise und umfangreiche kollegiale Hilfe!“

Das deutsche Staatsoberhaupt weiter: „Bibliotheken, das lehrt auch die Bibliotheca Augusta, also die ,erhabene‘ oder ,ehrwürdige Bibliothek‘, wenn wir den lateinischen Doppelsinn nehmen, mit ihren 450 Jahren hier in Wolfenbüttel, sind keine demokratischen Erfindungen. Sie stammen aus alten Zeiten. Aber ohne sie gäbe es die Demokratie nicht.“ Es passe daher so sachlich wie symbolisch, dass einer der großen deutschen Aufklärer, Gotthold Ephraim Lessing, an der HAB Bibliothekar war. „Keine Aufklärung ohne Bücher, das ist sozusagen die bleibende historische Erinnerung. Kein freier Zugang zu Büchern, zu Wissen, zu eigenem Denken ohne aufgeklärte, demokratische Zustände: Das ist die bleibende politische und gesellschaftliche Verpflichtung für uns alle.“

Steinmeier warb auch für die regelmäßige Nutzung dieser öffentlichen Einrichtungen. „Unsere Bibliotheken, von den großen Staats-, Landes- und Universitätsbibliotheken über die Stadtteil- und Ortsbibliotheken bis hin zu den katholischen und evangelischen öffentlichen Büchereien, sind offene, einladende, hilfsbereite Einrichtungen. Ein hervorragendes Beispiel für diesen neuen, einladenden Stil bietet gerade die uralte Wolfenbütteler Bibliothek. Allein schon ein Blick auf ihre Homepage kann das zeigen.“ Hier werde niemand mehr abgeschreckt, sondern willkommen geheißen. Dazu komme, dass Bibliotheken früh und erfolgreich die großen Chancen der Digitalisierung ergriffen haben, soweit es die Mittel zuließen. „Hier konnten und können ganz neue Wege gerade im Hinblick auf Partizipation eingeschlagen werden. In hervorragender Qualität stehen zum Beispiel alte Kostbarkeiten, Inkunabeln oder Handschriften, die aus konservatorischen Gründen geschützt werden müssen, der Öffentlichkeit zur Verfügung.“

Doch Bibliotheken seien nicht zuletzt Verheißungs-Orte möglicher Humanität. „Das gilt überall in der Welt und erst recht hier und heute, am Geburtstag der HAB. Ein Grund zu feiern und dankbar zu sein, auch in diesen, für die Vision einer humanen Welt für alle so schweren Zeiten.“

Bevor es in der Festrede von Prof. Dr. Dr. Ulrich Raulff auf etwas verschlungenen Pfaden um das Thema „Krieg und Frieden in der Bibliothek“ ging, sprach auch Niedersachsens Minister für Wissenschaft und Kultur ein Grußwort. Björn Thümler hatte ein Geburtstagsgeschenk im Gepäck: Neben rund 20 Millionen Euro, die das Land schon für ein neues Service-Center an der HAB bereitstellt, übernehme sein Ministerium auch den Ausbau dreier Wohnungen, in denen künftig die internationalen HAB-Stipendiaten unterkommen. Er bezeichnete Bibliotheken als zentrales Gedächtnis eines Volkes und lobte die Mitarbeiter der HAB für ihren „Dienst am Buch“.

Für den musikalischen Rahmen des Festakts sogte übrigens das Quintett Capella de la Torre. Es gab Kompositionen von Michael Praetorius – zwar keine 450 Jahre alt, aber immerhin: Der Komponist war ab 1604 Kapellmeister am Hofe von Herzog Heinrich Julius in Wolfenbüttel.

Steinmeier genoss seinen Besuch augenscheinlich. Mehr als drei Stunden lang parkte sein Dienstwagen mit dem Kennzeichen 0-1 vor der Bibliothek, bevor er sich im Sicherheitskonvoi wieder auf den Heimweg nach Berlin machte. Uns Wolfenbüttelern bleibt, der HAB auch ohne Festakt mal wieder enen Besuch abzustatten. Öffnungszeiten und das vielfältige Angebot finden sich im Internet: HAB.de