Die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel hat bislang noch nie durchgeführte Forschungen zu den Arbeitsstätten der Strafgefangenen an der JVA Wolfenbüttel und ihren Außenlagern veröffentlicht. Das Buch „outSITE Wolfenbüttel“ schickt Leserinnen und Leser auf eine Reise durch den ehemaligen Freistaat Braunschweig um die Frage zu beantworten, ob die 15.000 Strafgefangenen in Wolfenbüttel und die Verbrechen, die an ihnen verübt wurden, für die Bevölkerung sichtbar waren. Martina Staats, Leiterin der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel und das Autorenteam sagen eindeutig: „Ja. Sie waren überall.“
Über 70 Arbeitstätten, andere Gefängnisse und Hinrichtungsorte konnten die Autoren Tomke Blotevogel, Janna Lölke, Gustav Partington unter Herausgeberin Martina Staats dokumentieren. Das neue Buch hat das Format eines Reiseführers. Jeder relevante Ort ist mit Adresse aufgeführt und mit einem kurzen Text auf Deutsch und Englisch beschrieben.
Dazu gibt es ein Foto oder ein Dokument, teilweise zum Ausklappen für eine großformatige Ansicht. „Justiz und Strafvollzug waren im Nationalsozialismus nötig, um die NS-Ideologie durchzusetzen und Gegner auszuschalten. Uns beschäftigte die Fragen, was die Bevölkerung wissen konnte und ob es Außenorte gab“, schildert Martina Staats die Motivation für das Buch. Dabei stießen die Forschenden bisweilen auf Unerwartetes.
„Man rechnet damit, dass man auf die üblichen Orte im Rahmen der Kriegswirtschaft stößt und ist wenig überrascht, dass Gefangene bei den Reichswerken Hermann Göring arbeiten mussten – aber in welchem großen Maße das auch in der Landwirtschaft betrieben wurde oder sogar im Kino in Wolfenbüttel – das hat uns überrascht“, so Gustav Partington, einer der wissenschaftlichen Autoren des Buches.
Für diese Erkenntnis waren Akten aus einem Kriegsverbrecherprozess in Belgien aufzutreiben. „So konnten wir feststellen, dass im Winter 1942/43 vier bis sechs Gefangene im Kino gearbeitet haben – sie wurden zu den ‚Weltspielen‘ gebracht, neben dem Kino wurde eine Hütte errichtet und dort mussten sie dann unter Überwachung Arbeit verrichten“, erklärt Partington die Vorgehensweise.
So zog es sich durch alle Bereiche der Wirtschaft. Fleischereien, Gärtnereien, Straßenmeistereien – und alle vier großen Brauereien in Braunschweig. „Daran denkt man heute nicht mehr, wenn man ein Braunschweiger Bier trinkt“, kommentiert Partington und fährt fort: „Die deutsche Wirtschaft hat während es Krieges massiv von Zwangsarbeit profitiert. Aber da sind immer mehr die Zwangsarbeiter aus dem Ausland im Blick gewesen, Die KZ-Häftlinge, die Kriegsgefangenen. Aber dass die Gefängnisse eine wichtige Rolle gespielt haben und in Wolfenbüttel teilweise Leute aus Italien, Polen und Holland hertransportiert wurden, um Arbeit zu leisten – dazu gab es bislang wenig Forschung.“
Der Grund für die mangelnde Forschung ist, dass sich auch in der späteren Bundesrepublik lange der Mythos gehalten habe, dass der Rechtsstaat im Nationalsozialismus funktionsfähig war. „Die Verbrechen innerhalb Deutschlands sind vielen nicht bewusst. Doch sie haben sich vor der eigenen Haustür zugetragen“, verdeutlicht Tomke Blotevogel, ebenfalls wissenschaftliche Autorin. Das Deutsche Reich wahrte den Schein der Rechtsstaatlichkeit. Strafgefangene sollten gewisse Rechte haben. In vielen Fällen wurden sie jedoch behandelt wie rechtelose KZ-Häftlinge.
Blotevogel berichtet aus ihrer Forschung: „Es gab in der Regel auch Verträge über die Beschäftigung von Strafgefangenen. Auch das gaukelte einen rechtlichen Rahmen vor.“ Staats ergänzt: „Je nachdem, wo das war, wurde das auch eingehalten. Justizverurteilte und KZ-Gefangene gehörten zu jeweils anderen Systemen, arbeiteten aber oft unter den gleichen Umständen.“
So gebe es Berichte von Einsatzorten unter Tage, bei denen Arbeiter tagelang das Licht nicht gesehen hätten. „Auch zum Ausheben von Gräbern auf dem Hauptfriedhof nach dem Bombenangriff auf Braunschweig wurden Strafgefangene in Wolfenbüttel herangezogen. Später auch zum Bomben räumen – mit entsprechenden Todeszahlen.“ Gerade gegen Ende des Krieges stiegen diese ins unermessliche.
Unermesslich auch deshalb, weil die Forschung immer noch am Anfang steht. „OutSITE Wolfenbüttel“ ist die Möglichkeit, erste Erkenntnisse in einem neuen Feld und das Ergebnis einer 165.000 Euro teuren Forschungsarbeit für 7,50 Euro in den Händen zu halten. Staats sagt: „Niemand weiß, wie viele Strafgefangene wirklich in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten. Es gibt keine konkreten Zahlen bisher.“
Die Forschung, so ist sich Blotevogel sicher, sei mit diesem Buch nicht abgeschlossen. Vielmehr sollen sie Anreiz für weitere Forschungen liefern – auch für den Leser selbst: „Es ist spannend, zu den Orten hinzugehen um zu sehen, wie viel ist noch da? Und wie ist vielleicht auch die Nachnutzung? Bei den Klosterwerken gibt es zum Beispiel heute die größte unteridrische Apotheke der Bundeswehr. Dort werden Corona-Impfstoffe gelagert!“
Einen großen Dank richten die Projektbeteiligten an die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, die Braunschweigische Stiftung und die Stiftung Zukunftsfonds Asse für die Finanzierung der Forschung. Ein weiterer Dank des Teams gelte dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Jannik Sachweh, der durch seine Arbeit die Forschungsgrundlage geschaffen habe, die aus dem normalen Tagesgeschäft so nicht zu stemmen gewesen wäre, wie Staats verdeutlicht. Die Leiterin der Gedenkstätte in der JVA hat abschließend noch eine Bitte: „Wenn Leser selbst noch Materialien und Erinnerungen haben zu den Themen, die wir behandeln, würden wir uns freuen, wenn wir kontaktiert werden!“